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Mehr Handlungssicherheit im Umgang mit Covid-19
29.09.2020 - 11:16

Mehr Handlungssicherheit im Umgang mit Covid-19

Seit Corona werden in Pflegeeinrichtungen strenge Regelungen zum Infektionsschutz umgesetzt – oft zum Leidwesen von Bewohner*innen, Angehörigen und Pflegenden. Die neue S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V. (DGP) bietet nun Orientierung, wie sich Lebensqualität und Infektionsschutz besser in Einklang bringen lassen.

Prof. Dr. Erika Sirsch und Prof. Dr. Daniela Holle


Prof. Dr. Erika Sirsch (re.) und Prof. Dr. Daniela Holle (li.) sind Leitlinienbeauftragte der DGP. 

Sirsch ist Prorektorin und Dekanin an der Pflegwissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV). 
Holle ist Prodekanin und Professorin für Gesundheits- und pflegewissenschaftliche Forschungsmethoden im Department für Pflegewissenschaft an der Hochschule für Gesundheit, Bochum.


Frau Professorin Sirsch, Frau Professorin Holle, Besuchsbeschränkungen, und Quarantänemaßnahmen gehören seit Corona zum Alltag in stationären Pflegeeinrichtungen. Was sind die Folgen für die Bewohner*innen, Angehörigen und Mitarbeitenden?
Prof. Sirsch: Die Folgen dieser Regelungen sind sicherlich individuell zu bewerten. Dennoch weisen gerade Bewohner*innen von Altenheimen ein hohes Risiko für negative Folgen der Schutzmaßnahmen auf – diese reichen von einer körperlichen und sozialen Distanzierung bis hin zu einer gesteigerten Sterblichkeit.

Prof. Holle: Auch für Angehörige kann es enorm belastend sein, wenn sie ihre Familienangehörige über Wochen nicht sehen. Nicht zu vergessen ist, dass die Regelungen auch für Pflegende mit enormem Stress und psychischen Belastungen einhergehen können. Auch hierfür sind entsprechende Angebote zur Selbstfürsorge sowie Informations- und Beratungsangebote zur psychosozialen Unterstützung anzubieten.

Sind denn unter diesen strengen Maßnahmen soziale Teilhabe und Lebensqualität noch möglich?
Prof. Holle: Ihre Frage spiegelt genau das Spannungsfeld wider, in dem wir uns bewegen. Ziel sollte es sein, soziale Teilhabe und Lebensqualität zu ermöglichen bei bestmöglichem Schutz vor der Covid-19-Pandemie. Hierfür ist es wichtig, die individuelle Situation der Bewohnerin bzw. Bewohners in den Blick zu nehmen und an der Person zentriert Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen einzuleiten.

Was ist das Ziel der neuen Leitlinie „Soziale Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenhilfe unter den Bedingungen der Covid-19 Pandemie“, die nun unter Federführung der DGF entstanden ist?
Prof. Holle: Die Leitlinie soll den Pflegenden Handlungssicherheit im Umgang mit der Covid-19-Pandemie geben. Sie bündelt in erster Linie das bestehende Wissen und existierende Handlungsempfehlungen und setzt diese in den gegebenen Kontext der Pandemie. Sie bietet Orientierung, wie sich soziale Teilhabe und Lebensqualität von Bewohner*Innen und bestmöglicher Infektionsschutz für alle Beteiligten kombinieren lassen.

Und wie kann das gelingen?
Prof. Sirsch: Auf diese Frage geben vor allem die Empfehlungen 1 bis 10 der Leitlinie eine Antwort. Von Seiten der stationären Altenhilfeeinrichtungen sollte zum Beispiel ein Pandemieplan erstellt werden, der die Wahrung der Würde der Person mit Pflegebedarf in den Mittelpunkt stellt. Auch sollten die inhaltliche Ausgestaltung und Dauer von Quarantäne auf Basis einer individuellen Risikoeinschätzung erfolgen.

Prof. Holle: Die Leitlinie umfasst darüber hinaus Empfehlungen, wie Angebote zur Beziehungsgestaltung, zur Kommunikation, zu sinnstiftenden Alltagsgestaltung, zur Erhaltung und Förderung der Bewegungsfähigkeit oder Ernährungsangeboten unter Berücksichtigung des Infektionsschutzes gelingen können.

Wie können Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen die Leitlinie am besten nutzen?
Prof. Sirsch: Die Leitlinie soll Orientierung bieten, sie ist allerdings kein Kochrezept, das eins zu eins umgesetzt werden kann. Empfehlungen müssen immer auf die jeweilige Situation der Einrichtung und auch an die individuelle Situation der Bewohner*innen angepasst werden. Bei der Entwicklung der Leitlinie war es uns daher sehr wichtig, sowohl Vertreter*innen aus der direkten stationären Versorgung und der Wissenschaft zu beteiligen.

Diskutieren Sie virtuell mit, auf dem Deutschen Pflegetag am 11. und 12. November 2020!

Prof. Dr. Daniela Holle ist Referentin der Sitzung
„Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Krisenzeiten: Was haben wir gelernt?“ 
am 12. November von 15.30 bis 17 Uhr in Halle 8

Wie kam es zu der neuen Leitlinie?
Prof. Sirsch: Die DGP arbeitet seit mehreren Jahren daran, die Leitlinienarbeit in der Pflege weiterzuentwickeln und hierfür Strukturen aufzubauen. Diese Vorarbeiten haben uns in die Lage versetzt, in dieser doch kurzen Zeit unter Mitarbeit der verschiedenen Fach- und Interessengesellschaften eine Leitlinie auf den Weg zu bringen. Auch eine zweite Leitlinie für den ambulanten Bereich unter Federführung der DGP wird derzeit erarbeitet.

Wie ist die Studienlage zum Thema und auf welche Empfehlungen konnten Sie sich beziehen?
Prof. Holle: Insgesamt gibt es bislang nur wenige Studien zur pflegerischen Versorgung von Menschen mit Demenz unter den Bedingungen der Covid-19 Pandemie. Dennoch konnten wir auf bestehende Forschungsarbeiten und Handlungsempfehlungen auch aus anderen Zusammenhängen zurückgreifen. Dabei galt es zu prüfen, ob diese Aussagen ihre Gültigkeit behalten bzw. ob Empfehlungen den Gegebenheiten anzupassen waren. Es war entscheidend, dass Beteiligte und Delegierte aus sehr unterschiedlichen Fachgesellschaften und der Versorgungspraxis beteiligt waren, um unterschiedliche Perspektiven bei der Formulierung der Empfehlungen berücksichtigen zu können.

Was ist aus Ihrer persönlichen Sicht höherwertig: Infektionsschutz oder Lebensqualität?
Prof. Sirsch: Das ist eine nicht so einfach zu beantwortende Frage. Grundsätzlich sollte die Lebensqualität immer an erster Stelle stehen. Dabei kann der Schutz vor einer Infektion natürlich auch ein essentieller Bestandteil darstellen, um die Lebensqualität zu fördern oder zu erhalten.

Im Moment sind die Besuchsregelungen in vielen Bundesländern gelockert, gleichzeitig fürchtet man eine zweite Welle. Was sollte sich beim nächsten Mal auf jeden Fall zugunsten der Bewohner*innen und Angehörigen ändern?
Prof. Holle: Erfahrungen, die bei der ersten Welle gemacht wurden, finden sich auch in der Leitlinie wieder. Begegnung und soziale Teilhabe haben eine große Bedeutung für alle Menschen – deshalb dürfen nicht nur Aspekte der Virologie Berücksichtigung finden. Die Lebensqualität muss gerade für alte Menschen im Mittelpunkt stehen, und alle Maßnahmen müssen sich in einer Balance zwischen Erhaltung der Lebensqualität und dem Infektionsschutz befinden. 

Interview: Brigitte Teigeler

Die im August veröffentlichte S1-Leitlinie der DGP „Sozialen Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenhilfe unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie finden Sie unter https://dg-pflegewissenschaft.de/leitlinien-2